DER UKRAINISCHE FREIHEITSKAMPF, DIE MACHNOWSTSCHINA

Yoshito Otani


In der Ukraine fand um diese Zeit ein wenig bekannter, heldenhaft geführter Kampf statt, der sich unter seinem Anführer Machno gegen jede Unterdrük­kung wendete - gegen die der Großgrundbesitzer, der Deutschen und Öster­reicher, der weißrussischen Generale, welche die Ukraine erobern wollten und schließlich gegen die Unterdrückung durch die Bolschewiken. Obwohl Mach­no gegen die Weißrussen auf der Seite der Revolution kämpfte, wurde die Machnowstschina von Trotzki und General Frunse bis aufs letzte verfolgt und schließlich blutig niedergeschlagen. Der bolschewistische Leiter der geheimen operativen Abteilung der „Allrussischen Außerordentlichen Kommission", Samsonow, sagte darüber zu dem Widerstandskämpfer Volin nach dessen Gefangennahme:

„Sie halten das für Verrat? Nach unserer Auffassung zeigt das nur, daß wir geschickte Staatspolitiker sind: so lange wir Machno brauchten, ha­ben wir es verstanden, ihn auszunutzen, als wir ihn nicht mehr brauchten, haben wir es verstanden, ihn zu liquidieren."

Arschinow S.29
  Volin war ein russischer Anarchist, der sich der revolutionären Aufbauar­beit in der Ukraine zur Verfügung stellte. Er hatte sich, wie viele andere Revolutionäre nach der mißglückten Revolte von 1906 im Ausland aufge­halten. Im März 1917 hatte er in New York Trotzki getroffen, welcher damals erklärte: „Wie wir, so seid auch Ihr Revolutionäre... Jedenfalls sind wir Sozialisten, Genosse Volin! Also können wir nicht Feinde sein!" Volins Antwort war: „Ihr werdet anfangen, uns zu verfolgen, so bald Eure Macht konsolidiert sein wird. Und schließlich werdet Ihr uns wie Rebhühner abschießen..."

Neben Volin finden wir einen zweiten bedeutenden Anarchisten in der ukrainischen Freiheitsbewegung: Arschinow, einen Arbeitersohn und selbst Arbeiter, der sich durch eisernen Fleiß eine gewisse Bildung angeeignet hatte. Arschinow hat die Aufstandsbewegung in der Ukraine nicht nur-von Anfang bis Ende als Kämpfer und Organisator mitgemacht, sondern auch als ihr Historiker. Er sammelte Dokumente und Berichte und notierte selbst alle we­sentlichen Ereignisse. Viermal begann er sein Buch über die Bewegung, vier­mal ging ihm die halbfertige Schrift mit allen Unterlagen in Kämpfen oder bei Haussuchungen durch die Bolschewiken verloren. Trotzdem blieb er seinem Vorsatz treu und hat dadurch die heroische Geschichte einer echten Volksbewegung vor Verleumdung und Vergessenheit gerettet.

Eine dritte und zugleich die zentrale Persönlichkeit des ukrainischen Aufstandes war Machno, der Sohn einer armen bäuerlichen Familie aus Gulai Po­le im Gouvernement Jekaterinsolaw. Er war 1889 geboren, mußte von klein an bei Großgrundbesitzern zur Unterstützung seiner Familie arbeiten, schloß sich als Siebzehnjähriger 1905 den Anarcho-Kommunisten an und wurde 1908 wegen terroristischer Akte zu lebenslänglicher Zwangsarbeit (Katorga) verurteilt. Neun Jahre trug er Ketten an Händen und Füßen wegen „nicht lobenswertem Betragen", bis er 1917 durch die Revolution befreit wurde, zusammen mit Arschinow, der seit 1910 aus ähnlichen Gründen wie Machno im selben Gefängnis eingekerkert gewesen war.

Nach seiner Befreiung organisiert Machno den Aufstand zur Befreiung der Arbeiter und Bauern in der Ukraine. Diese ist eines der fruchtbarsten Gebiete Rußlands, wo seit dem 15. Jahrhundert - vom Beginn der Leibeigenschaft an - die Bauern nie aufgehört haben, gegen ihre Unterdrücker zu kämpfen. Immer gab es dort geheime Widerstandgruppen wie die Woinjitza und den Sa-poroger Sitsch. Die Bauern sind von jeher gewandte Reiter und im Gebrauch von Waffen geübt.

Österreichische und deutsche Truppen überschwemmen nach dem Frieden von Brest-Litowsk die von Lenin preisgegebene Ukraine und plündern sie schamlos aus, während unter ihrem Schutz gleichzeitig die alte Großgrundbe-sitzerregierung die Errungenschaften der Revolution wieder vernichtet. Die Empörung über die oft gewalttätige Plünderung führt überall zu Aufständen, die sich aber gleichzeitig auch gegen die reaktionären Großgrundbesitzer richten. Das Hauptziel der Aufständischen ist aber nicht die Vernichtung dieses oder jenes Gegners, sondern die Befreiung und Selbstbestimmung des arbeitenden Volkes. Die Bauern kämpfen aus eigenem Antrieb und auf eigene Verantwortung, und nur die harten Gegenangriffe ihrer Feinde zwingen sie zu größeren Zusammenschlüssen. In der Südukraine wird Machno zum Führer gewählt, später schließen sich immer mehr Aufstandsgruppen, auch aus dem Norden, unter seiner Führung zusammen. Zeitweise ist Machno das Zentrum der Vereinigung von Millionen von Bauern auf einem Territorium, das einige Gouvernements umfaßt. Die Armee der aufständischen Machnowzy ist auf der Grundlage von drei Prinzipien organisiert: freiwilliger Beitritt, Wahl der Kommandanten und Selbstzisziplin.

„Sterben oder siegen - das ist es, was im gegenwärtigen historischen Au­genblick den Bauern der Ukraine bevorsteht. Wir können aber nicht ster­ben, unser sind zu viele, - wir sind die Menschheit; folglich werden wir siegen. Wir werden aber nicht siegen, um nach dem Beispiel vergangener Jahre unser Schicksal einer neuen Regierung zu überantworten, sondern um es in unseren eigenen Händen zu halten und um unser Leben so zu gestalten, wie wir es selber wollen und wie wir es als wahr empfinden." 

Aus einem Aufruf Machnos, Arschinow S.77

Freiheit und Selbstverantwortung bleiben die Grundlagen der Bewegung. In eingenommenen Städten werden die Gefängnisse niedergerissen und in Stadt und Land Organe der Selbstverwaltung eingerichtet. Nach Vertreibung der Gutsbesitzer ist das Land in der Hand der Bauernschaft. Die ärmeren Bauern schließen sich hier und dort zu freien Kommunen zusammen zur gegenseitigen Hilfeleistung, nach Prinzipien, die sich auf keinerlei Regierungsgewalt stützen. Später werden sie von den Bolschewiken zerstört, ihre Hauptanführer aber erschossen. Arschinow berichtet darüber:

„Diese Kommunen entstanden nicht etwa aus Eigensinn oder um ein Beispiel damit zu geben, sondern ausschließlich, weil sie den Bauern lebensnotwendig waren, jenen nämlich, die vor der Revolution nichts besessen hatten, und nun nach dem Siege sich daran machten, ihre Wirtschaft auf kommunaler Grundlage einzurichten. Das waren nicht künstliche Kommunen der kommunistischen Partei, in denen gewöhnlich ein zufällig ge­sammeltes Element arbeitet, das Saat und Acker nur verschandelt, die größtmögliche Hilfe des Staates in Anspruch nimmt und auf diese Weise auf Kosten des Volkes lebt... Hier handelte es sich um wirkliche Bauern­kommunen, die die Arbeit an sich selber und an anderen zu schätzen wußten... Außerdem fand jeder in ihnen die erforderliche moralische und physische Unterstützung."

Arschinow S. 118

 Zur Bewältigung größerer Aufgaben werden Rayonkongresse gebildet. So lange die Freiheit bestand, haben drei solche Kongresse stattgefunden. Zur Durchrührung der Kongreßbeschlüsse und zur Aufrechterhaltung der inneren Verbindung wird ein revolutionärer Kriegssowjet des Rayons der Bauern, Ar­beiter und Aufständischen organisiert. Die Arbeiter und Bauern des ganzen Gebietes halten an der Idee der freien werktätigen Sowjets fest, welche im Unterschied zu den politischen Sowjets der Bolschewiken Organe der gesell­schaftlichen Selbstverwaltung sein sollen.

„So sehen wir denn, wie die breiten Massen der Bauernschaft und ein Teil der Arbeiter... mit Überlegung und Sachlichkeit daran gingen, das gewal­tige Werk des Aufbaues eines neuen Lebens zu beginnen... Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß die ganze Masse der Werktätigen, vorausge­setzt, daß sie frei geblieben wäre, eben diesen Weg beschritten hätte, daß sie mit ihrem Aulbau viel Gesundes, Eigenartiges und Weises verbunden hätte und auf diese Weise das Fundament zu einer wirklich freien, werk­tätigen Gesellschaft gelegt hätte."

Arschinow S.124

 Die Machnowzy suchten überall klar zu machen, daß sie keine neue Partei oder Regierung seien.

"Wenn sie in die eine oder andere Stadt einrückten, so erklärten sie jedesmal, daß ... ihre Kriegsmacht niemanden zu etwas verpflichte, sondern nur die Freiheit der Werktätigen beschütze. Die Freiheit der Bauern und Arbeiter ruhe in ihren eigenen Händen und könne daher nicht begrenzt werden... Bald nach den Arbeiterberatungen kam eine Rayontagung der Bauern und Arbeiter zustande, die sich am 20. Oktober 1919 in Alexandrow versammelte... Die Arbeiten dieses Kongresses dauerten etwa eine Woche, und es herrschte eine sehr gehobene Stimmung... Die wahre Freiheit, die nur die wenigsten zu empfinden vermögen, schwebte über dem Kongreß. Jeder sah vor sich und erkannte tatsächlich das gewaltige Werk, für welches alle Kräfte herzugeben, ja das Leben zu opfern, es wohl lohnt. Die Bauern... sagten, dies wäre der erste Kongreß, auf dem sie sich nicht nur frei, sondern auch als Brüder fühlten, und nie würden sie das vergessen."

Arschinow S. 194- 196

Der Geist der Freiheit, der diese Bewegung leitete, geht in besonders eindrucksvoller Weise hervor aus der Art, wie ihre Mitglieder darangingen, die Erziehung ihrer Kinder zu regeln.

"In der Periode des Übereinkommens zwischen den Machnowzy und der Sowjetregierung rückte die Schulfrage lebhaft und unmittelbar in den Vordergrund. Die Machnowzy hatten sich die Lösung dieser Frage im Rahmen der Selbstverwaltung der Werktätigen gedacht. Auch die Schulfrage, sagten sie, ist wie alles andere, das den grundlegenden Bedürfnissen der Werktätigen entspringt, Angelegenheit der ortseingesessenen werktätigen Bevölkerung. Dieselbe hat sich unmittelbar darum zu kümmern, daß ihre Kinder im Lesen und Schreiben und in allen übrigen Fächern unterrichtet werden. Das ist aber noch nicht alles. Indem die Werktätigen die Bildung und Erziehung der heranwachsenden Generation in ihre eigene Hand nehmen, reinigen sie hierdurch die Idee der Schule und rücken sie auch höher hinauf. Die Schule wird in den Händen des Volkes nicht nur zu einer Quelle der Bildung, sondern auch zu einem Mittel der Erziehung und Entwicklung des freien Menschen, wie das ein jeder Werktätige in der freien, werktätigen Gesellschaft zu sein hat. Folglich muß die Schule, vom ersten Augenblick der Selbstverwaltung der Werktätigen an, nicht nur in Unabhängigkeit von der Kirche, sondern in eben demselben Maße auch in Unabhängigkeit vom Staate erhalten werden. Die Bauern und Arbeiter von Gulai-Pole, die sich von diesem Gedanken leiten ließen, griffen die Idee der Trennung der Schule vom Staat, ihrer völligen Unabhängigkeit von diesem, wie auch von der Kirche, mit Begeisterung auf... Die praktische Lösung der Schulfrage in Gulai-Pole nahm folgende konkrete Gestalt an: Die Bauern und Arbeiter des ganzen Fleckens verpflichteten sich, für den Unterhalt des Lehrpersonals aufzukommen, das erforderlich wäre, um alle Schulen des Fleckens (in Gulai Pole gab es etliche Elementarschulen und zwei Gymnasien) in Betrieb zu erhalten. Es wurde eine Schulkommission gebildet, die sich aus Vertretern der Bauern, Arbeiter und Lehrenden zusammensetzte... "

Arschinow S.234/35

Man vergleiche hiermit den Punkt zehn des "Manifests", der das genaue Gegenteil fordert und die Behauptung enthält, Erziehung könne "unentgeldlich" sein, wenn sie durch die Öffentlichkeit besorgt würde.
Man kann sich vorstellen, welch ungeheuren Eindruck die freiheitliche Haltung der Machnowstschina auf die Rotarmisten machen mußte. Die bolschewistischen Führer haben allen Grund, diesen Einfluß zu fürchten. Sie reagieren dementsprechend und erklären die Rayonkongresse für "konterrevolutionär und ungesetzlich". Während sich Machnotruppen dem konterrevolutionären General Denikin entgegenwenden, fällt Trotzki vom Norden her mit einigen Regimentern in die aufständischen Dörfer ein und beginnt mit einer Hemmungslosigkeit, die keine Grenzen kennt, die Machnobewegung zu liquidieren. Er "brauchte aber eine formale Rechtfertigung für seinen verbrecherischen Feldzug, und mit beispiellosem Zynismus und Gemeinheit erklärte er, der... Kongreß wäre ausschließlich gegen die Südfront (d.h. gegen die rote Armee) gerichtet. Das soll heißen, daß dieselben Bauern und Aufständischen, die ihre ganze Kraft zur Niederwerfung Denikins einsetzen, gleichzeitig eine Verschwörung gegen die eigene Front organisieren. Man könnte glauben, daß eine solche Behauptung von geisteskranken Personen gemacht würde. Aber nein, das sind Behauptungen vollkommen gesunder Leute, die sich indessen an ein unglaublich zynisches Verhalten zum Volke gewöhnt haben...". (Arschinow S. 16 4).

Trotz des bolschewistischen Verrats wird im Herbst 1919 Denikins Heer durch die Machnowstschina vernichtet. Aus der ganzen Ukraine strömen Aufstandstruppen in den Machnowstschina-Rayon. Sogar aus Großrußland kommen Truppenteile der roten Armee, die sich der Machnowstschina anschließen, um mit ihr für die soziale Revolution zu kämpfen. Da kommt ein Befehl vom Kriegssowjet der 14. roten Armee, der die Versetzung der Aufstandsarmee an die polnische Front verlangt. Selbstverständlich können die Ukrainer nicht darauf eingehen, sich aus ihrem eigenen Land wegschicken zu lassen und bleiben in der Ukraine. Wegen dieser "Befehlsverweigerung" wird Machno mit seiner Armee im Januar 1920 für vogelfrei erklärt. Nun setzt Trotzki lettische und chinesische Regimenter gegen die Machnowzy ein, um der Gefahr einer Verbrüderung seiner Truppen mit den Aufständischen vorzubeugen. Neun Monate wird erbittert gekämpft. Machno selbst liegt schwer krank an Flecktyphus, die Bauern opfern sich oft selbst, um ihn vor seinen Verfolgern zu retten. Die Bolschewiken erschießen in den von ihnen besetzten Dörfern nach und nach etwa 200 000 Bauern, ebenso viele werden nach Sibirien deportiert.

Bei den Kämpfen pflegen die Machnowzy die gefangenen Soldaten der roten Armee zu entlassen und nach Hause zu schicken. Nur Offiziere werden erschossen. Die Roten aber erschießen jeden gefangenen Machnowzy gemäß dem Armeerlaß Trotzkis, in dem die rote Armee aufgefordert wurde, die Machnowstschina von Grund aus zu vernichten. Trotz aller durch die Bolschewiken verübten Greuel lassen die Ukrainer den Mut und den Willen zur freien Selbstbehauptung nicht sinken.

Noch einmal zwingt ein konterrevolutionärer Angriff — diesesmal von General Wrangel - die Bolschewiken zu einem Bündnis mit Machno (Oktober 1920). Für Machno und seinen Stab ist die Entscheidung schwer, wie sie sich nun verhalten sollen. Die Diktatur der Kommunisten bedroht die Freiheit der Arbeit nicht weniger als Wrangeis Konterrevolution. Aber die Massen der Werktätigen glauben an die Revolution, obwohl sie von den Bolschewiken in zynischer Weise betrogen werden. Daher entschließen sich die Machnowzy für den Kampf mit der roten Armee gegen Wrangel.

Wrangel wird besiegt, und wieder setzt eine kurze Aulbauarbeit ein. Aber schon eine Woche nach dem endgültigen Sieg über Wrangel fallen die Bolschewiken wieder über die Machnowstschina her - unter Bruch des militärpolitischen Übereinkommens. Diese sind zwar auf den Verrat der Roten gefaßt, doch haben sie ihn nicht so schnell erwartet. Mit Hinterhalten, Verrätereien und Erschießungen wird die Machnotruppe ihrer besten Führer beraubt und dezimiert. Noch einmal sammelt Machno eine Abteilung von 2500 Mann und erkämpft einige Siege, bei denen er bis zu 10 000 Gefangene macht. Die rote Infanterie geht nur ungern in den Kampf gegen Machno und läßt sich zum Teil in Massen gefangennehmen. Sobald aber die Soldaten der roten Armee von Machno entlassen werden, zwingt Trotzki sie zu neuem Einsatz gegen die Machnowstschina. Schließlich stehen vier rote Armeen gegen Machno im Feld, und es bleibt ihm nur — unter heftigen Kämpfen, die den ganzen Sommer 1921 dauern - der Rückzug über den Dniepr ins Ausland. In derselben Zeit gehen in den ukrainischen Dörfern die Massenerschießungen von Bauern durch die Roten unter General Frunse weiter.

Machno hat es nicht verstanden, seine Siege voll auszunützen. Vor allem war er den Bolschewiken gegenüber einigemale zu sorglos — zum Teil im Vertrauen auf die Gerechtigkeit seiner Sache, für die er nicht ganz ohne Grund auch das Volk auf der Seite der Roten zu gewinnen hoffte, zum Teil auch, weil er so wenig wie seine Zeitgenossen durchschaute, welche tückischen und unerreichbaren Mächte sich hinter der neuen Sowjetregierung verbargen. Auch Arschinow kann sich das Rätsel des bolschewistischen Sieges nicht erklären, und so kommt er nur bis zu psychologischen Schlußfolgerungen.

"Da nun die kommunistische Partei keinen natürlichen Rückhalt hatte, weder in einer der Klassen der zeitgenössischen Gesellschaft noch in den Arbeitern, noch in den Bauern, noch im Adel oder in der Bourgeoisie... mußte sie notgedrungen zu terroristischen Maßnahmen greifen und ein Regime allgemeiner Knechtung einführen."

Arschinow S. 102

Arschinow überlegt aber nicht, ob es überhaupt möglich ist, eine Revolution, die nirgendwo eine Unterstützung hat, durchzuführen. Natürlich gibt es in diesem Fall keine andere Methode als den Terror. Aber dieser ist wieder nur möglich durch eine Waffe, um die allgemeine Opposition zu ersticken. Tatsächlich hat der Bolschewik die Peitsche, um das Volk zu versklaven. Aber da diese Peitsche die Voraussetzung war für den Tenor, hat Arschinows Rückschluß keinen Sinn. Gerade daß ihm diese Peitsche von keiner völkischen Schicht gegeben wurde, beweist, daß er sie von ausländischen Finanzleuten bekam, die dieses sadistische Experiment vom Lehnstuhl aus genießen konnten. Aus derselben Unkenntnis heraus glaubt Arschinow auch, daß Machno vielleicht hätte siegen und dem Schicksal der ganzen russischen Revolution eine andere Richtung hätte geben können, wenn er über größere historische und sozialpolitische Kenntnisse verfügt hätte.

Die Machnowstschina gibt uns ein klares Bild des unverfälschten revolutionären Volkswillens, welcher in der damaligen Zeit auch an vielen anderen Orten aufflammte, aber überall auf ähnliche Weise rasch und blutig unterdrückt wurde.

"Eine solche Entstellung der Revolution und ihrer Perspektiven, wie sie vom Bolschewismus aus mit seiner Diktatur gefördert wurde, konnte nicht ohne Proteste seitens der Massen und ohne deren Streben, gegen diese Entstellung anzukämpfen, durchgehen. Diese Proteste führten aber nicht etwa zu einer Abschwächung des politischen Drucks, sondern nur zu dessen Befestigung. Es begann die langwährende Episode des Regierungsterrors, durch den ganz Rußland in ein einziges Kollossalgefängnis verwandelt wurde, wo die Furcht für Tugend galt und die Lüge zur Pflicht wurde. Unter dem Druck des politischen Terrors, den die Regierung ausübt, lügen die Erwachsenen, lügen die lernenden Halbwüchsigen, lügen die Kinder von 5 - 7 Jahren."

Arschinow S. 101

Wir sehen hier auch, welche künstliche und unwahre Behauptung es ist, daß irgendwelche Völker auf irgendeiner "Stufe" ihrer Entwicklung den Bolschewismus, Kommunismus oder Sozialismus "brauchen", um mit seiner Hilfe bessere Zustände zu erringen. Terror oder Diktatur waren noch nie geeignete Mittel zur Erringung besserer Zustände. Davon reden nur solche, die gezwungen werden, so zu reden, oder solche, die selbst noch nie unter einer Diktatur gelebt haben oder auch solche, die selber ein diktatorisches System errichten wollen.

Arschinow hat, obwohl er kein intellektuell gebildeter Student oder Professor war, sondern sein Leben im revolutionären Kampf und teilweise sogar im Gefängnis zubrachte, in seinem Buch sehr klare Ansichten über den Marxismus geäußert. Niemand wird wohl den Verdacht haben können, daß diese nur der Ausdruck einer "konterrevolutionären bürgerlichen Gesinnung" seien.

"Im Verlauf der großen Französischen Revolution haben die Werktätigen, um ihr zum Ziele zu verhelfen, alle ihre Kräfte darangesetzt und kollossale Opfer gebracht. Waren aber etwa die Politiker dieser Revolution Söhne des Proletariats und kämpften sie für dessen Ideen, für Freiheit und Gleichheit? Nein, keineswegs. Danton, Robespierre, Camille Desmoulins waren ganz und gar Repräsentanten der damaligen liberalen Bourgeoisie... Und hat wohl nach der Französichen Revolution von 1848 die Arbeiterklasse, die eben dieser Revolution drei Monate heroischer Anstrengungen, Not, Entbehrungen und Opfer dargebracht hatte, die "soziale Republik", wie sie von den Führern verheißen worden war, erhalten? Sie waren es, die der Arbeiterklasse soziale Knechtung und ein Massenblutbad, die Erschießung von 50 000 Arbeitern in Paris bereiteten, als diese Arbeiter den Versuch machten, sich gegen die Führer, die sie betrogen hatten, zu erheben...

Die Idee einer zwangsweisen Beherrschung der Massen war stets solchen Individuen eigentümlich... denen die Menschenmasse nicht mehr war als Rohmaterial ohne eigenen Willen, ohne Initiative, ohne Bewußtsein, unfähig zu Akten gesellschaftlicher Selbstverwaltung. Diese Idee war stets Eigentum der herrschenden privilegierten Gruppen, die außerhalb des werktätigen Volkes standen... Es ist kein Zufall, daß der heutige Sozialismus sich als treuer Diener dieser Idee erweist; bildet er doch die Ideologie der neuen Herrscherkaste. Sehen wir aufmerksam zu, was denn eigentlich die Träger und Verkünder des staatlichen Sozialismus wollen, so werden wir gewahr, daß jeder von ihnen von zentralistischen Bestrebungen erfüllt ist, jeder betrachtet sich selber vor allen Dingen als das Zentrum, von dem aus die Massen geführt und regiert werden... Der ganze heutige sogenannte sozialistische Aufbau, wie er in Rußland durchgeführt wird... ist vor allen Dingen nichts anderes als eine Aufrichtung neuer Klassenherrschaft über die Produzenten, und einer neuen sozialistischen Regierungsgewalt über ihnen. Der Plan zu diesem Aufbau und zu dieser Herrschaft wurde jahrzehntelang von den Führern der sozialistischen Demokratie bearbeitet und vorbereitet... Die Nationalisierung der Industrie befreite die Arbeiter aus den Händen einzelner Kapitalisten, lieferte sie aber den noch zäher zugreifenden Händen eines allgegenwärtigen Ausbeuter-Kapitalisten, nämlich des Staates, aus..."

Arschinow S.38/39,42/43 u. 94/95

Das ist gerade auch der Widerspruch, der zwischen dem "Manifest" und dem "Kapital" von Marx bestand und der ihm ganz bewußt gewesen sein muß. Am Ende seines Buches zieht Arschinow seine Schlüsse aus dem Erlebten und beleuchtet im Sinne dieser Erfahrungen die ganze sozialistische Bewegung.

"Die Machnowstschina hat nur eine Seite der russischen Wirklichkeit enthüllt. Gewiß wird die Zeit kommen und auch die Menschen werden da sein, die diese Wirklichkeit von allen Seiten mit dem Licht der Wahrheit beleuchten werden. Dann aber wird die Rolle des Bolschewismus in der russischen Revolution klar vor aller Augen liegen... Im Verlauf der ganzen russischen Revolution, da die Werktätigen den Versuch unternahmen, Akte wirklicher Selbstbetätigung zu vollführen, sich auf eigene Füße zu stellen, war es der Bolschewismus, der sie abwürgte... Er hat die revolutionäre Initiative und Eigenaktivität der Massen erstickt, er hat die gewaltigsten revolutionären Möglichkeiten, die je in der Geschichte der Werktätigen wirksam wurden, zertrümmert... Man soll sich aber nicht betrügen und den Gedanken aufkommen lassen, daß der Bolschewismus allein die Verantwortung für den Zusammenbruch der russischen Revolution zu tragen hat. Der Bolschewismus hat das verwirklicht, was jahrzehntelang von der sozialistischen Wissenschaft ausgearbeitet worden war. Seine ganze Praxis ist aus der Theorie des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus entnommen worden. Gleichzeitig sehen wir, wie derselbe wissenschaftliche Sozialismus in den Staaten Europas heuchlerisch mit der Arbeit umspringt, indem er sie einer bourgeoisen Diktatur unterordnet. Die Arbeiterklasse muß, wenn sie nach den schuldigen Urhebern der schimpflichen und überaus schweren Lage sucht, in welche die sozialistische Diktatur die Bauern und Arbeiter in Rußland gebracht hat, den gesamten Sozialismus zur Rechenschaft ziehen und ihm das Urteil sprechen."

Arschinow S.330 u. 333

Source: www.tolzin.de/geschichte/    Original source: Yoshito Otani: "Untergang eines Mythos“, 2. Auflage 1981, Arrow Verlag Gesima Vogel, ISBN 3-922133-00-2, 324 Seiten, Paperback, Bestell-Info bei hans@tolzin.de

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